Samstag, 26. April 2008

Keine Angst vor Europa!

Europäischer Gerichtshof stärkt deutsche Verbraucher

Die Zustimmung des Bundestags am 24.04.2008 zur EU-Reform, dem sog.Lissabon-Vertrag, hat viele Politiker, allen Euroskeptikern zum Trotz, schon euphorisch von den Fortschritten für die Menschen sprechen lassen. Anlass genug, die europäische Rechtsrealität anhand eines aktuellen Beispiels ein bisschen genauer zu beleuchten!

Mit Urteil vom 17. April 2008[1] entschied der Europäische Gerichtshof

http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:62006J0404:DE:HTML

zu Gunsten von Verbrauchern beim Verbrauchsgüterkauf.
Er stellte fest, dass die Regelung in den §§ 439 Abs. 4, 346 ff. BGB, die im Falle der mangelbedingten Ersatzlieferung einseitig zu Gunsten des Verkäufers einen Nutzungsersatzanspruch vorsieht, gegen die europäische Verbraucherschutz-Richtlinie für den Verbrauchsgüterkauf[2], insbesondere gegen Art. 3 Abs. 3 verstößt. Dieser schreibt vor, der Verbraucher dürfe auch im Falle des Austauschs eines defekten Kaufgegenstands nicht mit Kosten belastet werden, da die Geltendmachung seiner Gewährleistungsrechte wie auch bei der Nachbesserung völlig unentgeltlich sein muss. Etwas anderes soll nur für die komplette Rückabwicklung[3]des Vertrags gelten dürfen, war aber nicht Verfahrensgegenstand.

§§ Auf gut Deutsch §§
Im zugrundeliegenden Fall hatte eine Dame eine Waschmaschine bei Quelle gekauft, die bald defekt war. Als sie den Mangel anzeigte, wurde diese anstandslos durch ein neues Gerät ersetzt. Sie musste allerdings für den Zeitraum vom Kauf bis zum Austausch Ersatz für die Nutzung des Erstgeräts leisten. Sie hatte also nicht nur Scherereien wegen eines kaputten Geräts, sie musste dafür auch noch den objektiven Wert der Nutzung ersetzen.

Der Händler, der ihr diese „Montagsproduktion“ bescherte, machte dafür ein gutes Geschäft mit mangelhafter Ware! Denn der objektive Wert der Nutzung kann faktisch als eine Art willkommene „Mieteinnahme“ betrachtet werden und das Schönste von allem ist, es steht ihm rechtlich zu nach §§ 439 Abs. 4, 346 Abs. 2, 347 Abs. 1 BGB!.

Das fanden auch die deutschen Gerichte ungerecht und gaben dem klagenden Bundesverband der Verbraucherzentralen in den ersten zwei Instanzen Recht.
Nur der BGH hatte Bauchschmerzen bei der Direktanwendung von europäischem Recht contra legem, also gegen eindeutig anderslautende Gesetze wie hier im BGB, bei dem es der Gesetzgeber weiland offensichtlich nicht so genau mit der Umsetzung der EU-Richtlinie genommen hatte, auch wenn er hierfür bis zur Schuldrechtsmodernisierung im Jahre 2002 zumindest rein rechnerisch 3 Jahre Zeit hatte. Vielmehr verschärfte er die Regelung, die das alte BGB so nicht vorgesehen hatte.
Der BGH legte demzufolge die Rechtsfrage der Vereinbarkeit der einschlägigen Paragraphen des BGB mit der EU-Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie dem EuGH vor, der nun den Verstoß offiziell feststellte.

Was hat’s gebracht?
Muss jetzt Quelle, die sich auf bundesdeutsches Recht verlassen hat, die Zeche zahlen, weil der Gesetzgeber geschlampt hat?
Die Vermutung liegt nahe, da die Vorlage an den EuGH sonst sinnlos gewesen wäre, wollte der BGH sich nicht über geltendes nationales Recht
hinwegsetzen.

Darf der BGH das denn jetzt?
Formaljuristisch nicht. Denn die EU-Richtlinien entfalten gegenüber nationalen Gesetzen keine direkte, höherrangige Geltung, sondern müssen hierfür erst in Nationalgesetze umgesetzt werden. Verstößt ein Gesetz gegen eine solche Richtlinie, müsste man streng genommen im Rahmen eines Staatshaftungsprozesses die Bundesrepublik wegen fehlerhafter Umsetzung der EU-Richtlinie auf Schadensersatz verklagen, wie erstmals mit Erfolg in dem Fall der Insolvenz des Reiseveranstalters MP Travel Line[4], weil die EG-Pauschalreisen-Richtlinie zur Insolvenzsicherung von der BRD nicht rechtzeitig umgesetzt worden war.

In der Rechtsprechung gibt es aber immer mehr Beispiele für europarechtskonforme Auslegung nationalgesetzlicher Regelungslücken oder -versäumnisse, bei der auch Ansprüche direkt aus den EU-Richtlinien hergeleitet wurden, wie etwa im Falle der Diskriminierung von Behinderten mit Behinderungsgrad unter 50%[5] vor Einführung des Antidiskriminierungsgesetzes, das erst mit großem zeitlichen Verzug die europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien in nationales Recht gegossen hatte. Damals gab es nur eine Schwerbehindertenregelung in § 81 Abs.2 Nr.1 SGB IX..

Die Gerichte stützen sich bei dieser Praxis auf die ständige Rechtsprechung des EuGH, der aus Art. 10 des EG-Vertrags die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung und direkten Anwendung des Gemeinschaftsrechts ableitet, falls der nationale Gesetzgeber säumig ist oder bei der Umsetzung fehlerhaft gehandelt hat.

Nur verträgt sich diese Auslegung supranationaler vertraglicher Bindungen nicht mit der verfassungsgemäßen Verpflichtung auf Recht und Gesetz.

Es fehlt die Konsistenz zwischen europarechtlichem Müssen, zu dem man sich schließlich verpflichtet hat – Legislative wie Judikative – und nationalem Dürfen, ein nicht nur formaljuristisches Dilemma, das wohl am besten vom Bundesverfassungsgericht gelöst werden sollte, weil es beim Zusammenwachsen der europäischen Union auch um die Harmonisierung des Rechts im veränderten und sich weiter entwickelnden Europa geht, an dem sich auch die Verfassung messen lassen muss, sofern nicht deren Grundfeste angetastet werden.

Die dogmatisch zutreffende Unterscheidung zwischen einer richtlinienkonformen Auslegung bei Nichtregelung oder Säumnis des Gesetzgebers und einer Anwendung von Gemeinschaftsrecht contra legem, wenn der Gesetzgeber sich ausdrücklich über Gemeinschaftsrecht hinwegsetzt, dürfte keine Rolle spielen, da es keinen Unterschied machen sollte, ob der Gesetzgeber etwas gar nicht regelt oder nur anders. Auch das Unterlassen einer Regelung ist eine andere als die auf europäischer Ebene vereinbarte. Es ist folglich nicht einzusehen, warum die Vorgehensweise jeweils eine andere sein sollte, wenn es sich im Endeffekt immer um Verstöße gegen Europarecht handelt.

Fazit:
Natürlich ist in erster Linie der Gesetzgeber gefragt, verbindlich Abhilfe zu schaffen. Auch müsste der Staat für die Versäumnisse seiner Legislative einstehen. Da wo dies jedoch nicht geschieht, muss ein Korrektiv her, wenn man es mit Europa wirklich ernst meint. Auch auf europäischer Ebene muss gelten: Pacta sund servanda!
Wer auf gültige Gesetze vertraut, sollte aber nicht bestraft werden wie Quelle. Zumindest sollte nicht das Unternehmen für die Versäumnisse auf europäischer Ebene gerade stehen müssen, erst recht aber auch nicht der Verbraucher!

Dabei muss selbstverständlich auch differenziert werden:

Verbessert das Gemeinschaftsrecht die Rechtsposition seiner Bürger wie im Fall der Behindertendiskriminierung, darf auch das Grundgesetz einer europarechtskonformen Auslegung nationalen Rechts nicht im Weg stehen, zumal auch der Grundrechtsschutz geradezu eine korrigierende Lösung durch die Gerichte erforderlich macht. Der Diskriminierende dürfte wohl kaum ein schützenswertes Interesse haben, weiterhin diskriminieren zu dürfen, nur weil der Gesetzgeber säumig war. Ebenfalls sollte der Diskriminierte gleich gegen den Diskriminierenden vorgehen dürfen, wenn die Rechtslage aufgrund der EU-Richtlinie eindeutig bestimmbar ist wie bei vereinbarten Entschädigungsansprüchen.

Werden jedoch Grundrechte beschnitten, muss gerade dann ganz besonders akkurat geprüft werden, wo die nationalen Grenzen deutlich zu ziehen sind, falls dies auf europäischer Ebene wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht gelungen ist.

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[1] EuGH C 404/06 1. Kammer

[2] Richtlinie 1999/44/EG

[3] Warum dies anders zu beurteilen ist, leuchtet nicht ein, wenn man bedenkt, dass der Käufer ausgerechnet dann draufzahlen muss, wenn der Verkäufer ihm gar keine Abhilfe schaffen kann, er weder ein repariertes Gerät noch ein neues bekommt. Die Unterscheidung zwischen Herstellung des vertragsgemäßen Zustands auf der einen Seite und Rückabwicklung auf der anderen, vermag hier nur dogmatisch zu überzeugen.

[4] EuGHE 1996, 4845 nach Vorlage durch das LG Bonn

[5] BAG 3.4.2007, 9 AZR 823/06